Trieglaff zwischen Deutschland und Polen, 8 Mai 1945von RUDOLF VON THADDEN (aus: „Vom Vergessen – Vom Gedenken“. – Erinnerungen und Erwartungen in Europa am 8.Mai 1945, Hrsg. v. Heinz Ludwig Arnold. – Göttingen: Wallstein Verlag mit freundlicher Genehmigung des Autors) |
Es gibt viele 8.Mais in Deutschland und Europa. Für die meisten Menschen lag er in den Wochen und Monaten davor, als die Truppen der Siegermächte in die Dörfer und Städte einmarschierten und die Reste der Wehrmacht aus ihren letzten Bastionen vertrieben. Die einen erfuhren diesen Tag als Ende von Kampfhandlungen und Bombenangriffen. Die anderen als Beginn von Flüchtlingselend und Heimatlosigkeit, wiederum andere als Befreiung von Naziterror und KZ-Haftzeit, umgekehrt andere, schließlich, als Abmarsch in die Kriegsgefangenschaft. Der 8. Mai 1945 ist kein einfaches Datum in der Geschichte der Erinnerungen.
Ich selbe erlebte diesen Tag, der in unseren heutigen Geschichtsbüchern und Nachschlagewerken fett gedruckt ist, völlig unspektakulär. In meinem Heimatdorf Trieglaff im östlichen Pommern, In Trieglaff lebten im Mai 1945 eine bunt gemischte Bevölkerung, die der Krieg auf die eine oder andere Weise in die ländliche Welt des Kreises Greifenberg verschlagen hatte. Neben den 450 alten Dorfeinwohnern (abzüglich der als Soldaten eingezogenen jüngeren Männer) hielten sich noch sogenannte „Evakuierte“, also Bombenflüchtlinge aus den lange Zeit von Luftangriffen bedrohten Großstädten des Ruhrgebietes im Dorf auf, dazu kamen zahlreiche Flüchtlinge aus Osteuropa, die auf ihrem Weg in das Innere Deutschlands kurz vor der Oder von der Roten Armee überrollt worden waren, schließlich viele Versprengte aus den umliegenden Ortschaften die im Strudel der Ereignisse bei Kriegsende in dem von einer russischen Kommandantur beschützten Dorf Zuflucht gesucht hatten und dann „hängen geblieben“ waren. Alles in allem mögen es also tausend Deutsche gewesen sein, die am besagten 8.Mai ihr Leben in Trieglaff fristeten. So war das Dorf am 8.Mai 1945 alles andere als eine homogene Gesellschaft. Es bestand aus Menschen die – der Perspektivenwechsel sei dem Historiker erlaubt – nur wenige Jahre zuvor nichts miteinander verbunden hatte und denen zur Bildung einer funktionierenden Dorfgemeinschaft so ziemlich alles fehlte. Dieses Defizit wurde auch dadurch noch verstärkt, dass es in den Gebieten östlich der Oder-Neiße nach dem Kriegsende keine ordentliche Verwaltung gab: die deutschen Behörden hatten zu bestehen aufgehört, und die polnischen waren noch nicht eingerichtet. Man war also drauf angewiesen, mit einer rudimentären „Ordnung“ zu leben. Tote mussten bestattet werden, Kranke brauchten ein Minimum an Versorgung, und die Gesunden, die übrigens meistens Frauen, Kinder und alte Menschen waren, hatten für die Beschaffung von Nahrungsmitteln zu sorgen. Da bleibt nicht viel Raum für Reflexionen über den Wandel der Zeiten. Im Unterschied zu den vier Besatzungszonen im restlichen Deutschland gab es östlich der Oder-Neiße weder Lebensmittelkarten noch eine gültige Währung. Das Leben beruhte auf Tauschverkehr und Beschaffung von Naturalien; Geld hatte keinen Wert. Und da auch keine Zeitungen und Rundfunkapparate vorhanden waren, fehlte es an den einfachsten Voraussetzungen für eine Wahrnehmung des 8.Mai als Datum des Kriegsendes. Von den Kapitulationshandlungen in Reims und Karlshorst erfuhren wir erst Monate später, als pommersche Rückwanderer über die Oder kamen und Nachrichten aus Berlin und anderen Orten mitbrachten. Wie aber habe ich den 8.Mai 1945 konkret erlebt? Ich entsinne mich, dass russische Soldaten mit Wodka in der Hand „Woina kaputt“ riefen und mir, der ich für ihre Küche und Bäckerei Holz und Wasser herbeizuschaffen hatte, ebenfalls Wodka zu trinken anboten. Auch ohne russische Sprachkenntnisse begriff ich rasch, dass mit diesen Worten das Ende des Krieges gemeint sein musste. Da sich aber nicht das Geringste an unserer Lage änderte, beflügelte auch nichts meine Phantasie im Blick auf die Zukunft. Einige ältere Leute fragten, ob nun wohl bald entschieden würde, ob wir bei Deutschland bleiben oder zu Polen kommen würden. Und einige Leute, deren Heimat westlich der Oder lag, begannen sich mit dem Gedanken zu befreunden, nach Westen aufzubrechen. Da aber niemand genau wusste, wie die Welt jenseits der Oder aussah, und da auch völlig unbekannt war, an welcher Stelle Deutschlands sich Amerikaner und Russen schließlich getroffen hatte, siegte doch wieder das Gefühl, das ein Ausharren am Ort das Vernünftigste sei. Hier kannte man wenigsten den Gemüsegarten. Erst mit größerem zeitlichen Abstand wurden den Menschen in unserem Dorf bewusst, was das Ende des Krieges wirklich bedeutete. Dabei fiel mir auf, dass jene Personen, die auch schon vor dem Einmarsch der Roten Armee kritisch über Hitler und seine Gewaltherrschaft gesprochen hatten, nun auch eher bereit waren, die schrecklichen Folgen des verlorenen Krieges auf sich zu nehmen, als jene, die ihm kritiklos gefolgt waren. Aber es wäre eine nachträgliche Retusche, wenn man die Empfindungen und Gedanken dieser nachdenklichen und regimekritischen Menschen als Ausdruck von Befreiungsgefühlen darstellen würde. Dazu war im östlichen Pommern im Mai 1945 die Gefährdung der Existenz zu groß. Im Laufe der folgenden Jahre, in denen die deutschen Einwohner Trieglaffs das Dorf verlassen mussten und in die Besatzungszone westlich der Oder-Neiße-Linie gelangten, entwickelten sich jedoch Einsichten, die über die Empfindungen des Jahres 1945 hinausreichten. In dem Maße, in dem die Kenntnisse über die Zusammenhänge der Ursachen und Folgen des Krieges wuchsen, wurde es auch leichter, die schweren Erfahrungen des Jahres 1945 zu verarbeiten und einen Blick für die neu gewonnenen Freiheitschancen zu gewinnen. Nun wurde deutlicher, warum es keinen Ausweg aus dem von Hitlerdeutschland verschuldeten „Totalen Krieg“ ohne totale Niederlage geben konnte, keinen Weg zu Frieden ohne eine leidvolle Nachkriegszeit. Der 8.Mai musste immer wieder neu „nachgedacht“ werden. Freilich sollte die erlebte Geschichte in der später durchdachten immer einen festen Platz behalten. Sie bewahrte vor formelhaften Einordnungen, die in der Masse der Faktoren keine lebendigen Menschen mehr zu sehen erlaubten und Erinnerungen von nachträglichen Erkenntnissen verstellen ließen. Die erinnerte Geschichte reicht zwar nicht aus, um den Strom der ganzen Geschichte, der „histoire totale“ zu begreifen. Aber ohne sie bleibt auch die höchste wissenschaftliche Erkenntnis farblos und unwesentlich. Die Versöhnung der Völker bedarf eines wachen historischen Gedächtnisses. Auch fünfzig Jahre nach dem Ende des Krieges hat sich daran nichts Wesentliches geändert. Zwar nimmt die Zahl der vernehmbaren Zeitzeugen mit dem Fortgang der Jahre ab, auch tritt die Bedeutung der erinnerten Geschichte zunehmend hinter der wissenschaftlich aufgearbeiteten zurück, aber das Erfordernis eines kontrollierten historischen Gedächtnisses ist doch so groß wie eh und je. Es gibt Daten der Geschichte, die wie Denkmäler der Pflege bedürfen. Damit stellt sich jedoch die Frage nach der Fortschreibung der Botschaft, die mit der geschichtlichen Erinnerung verbunden ist. Jede Generation hat ihre eigene, neue Begegnung mit Daten wie dem 8.Mai 1945. War in den Jahrzehnten nach dem Kriege das Bemühen um Versöhnung mit den überfallenen Völkern vorrangig, so treten heute, nach dem Zusammenbruch des Sowjetsystems, andere politische Themen in den Vordergrund. Wie ist den Wurzeln des Nationalismus beizukommen, die das Zusammenleben von Menschen verschiedener Herkunft und Prägung bedrohen? Wie ist vor allem dem Ungeist der Restauration zu wehren, der den Gewinn an Freiheit und Demokratie erneut überschattet, ja gefährdet? Zum fünfzigsten Jahrestag des Kriegsendes ist nichts so notwendig wie die Erklärung, dass nicht alles wiederhergestellt werden kann, was die Wogen des Hasses zerstört haben. Die jüdische Kultur in Mitteleuropa ist unwiederbringlich verloren. Wer meint, man könne aus dem Scheitern der kommunistischen Nachkriegsordnung im Osten eine auch nur annähernde Restauration der vorhergehenden Verhältnisse ableiten, der verkennt nicht nur die Grenzen menschlicher Macht in der Geschichte, der setzt auch die Grundlagen des Friedens aufs Spiel. Versöhnung zerrinnt ohne innere Annahme des Geschehenen. Am 8.Mai brauchen wir so mutige Gesprächsangebote wie das von Václav Havel. |
siehe dazu auch: https://www.welt.de/print-welt/article336609/Gluecklich-in-Trieglaff.html
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