Vertreibung

Wie die Familie Trieglaff ins Rheinland kam

Vor dem 1.Weltkrieg

Um diese Geschichte zu erzählen, muss weiter ausgeholt werden: nämlich zurück bis zur Zeit des 1. Weltkrieges und wie sich die Geschichten zweier Familien verbanden.

Aus Monheim im Rheinland kamen nach dem 1. Weltkrieg die Kinder Ernst und Paula Goebel auf den Radloffschen Hof in Sternin, um sich zu erholen. Sie wurden dort von Pauline und Johannes Radloff herzlich aufgenommen. Und weil es in Pommern so schön war, kamen sie jedes Jahr wieder.
Als sie erwachsen waren, siedelten sie nach Pommern um. Ernst ging nach Treptow in das Sägewerk von Paulines ältester Tochter Anna und ihrem Ehemann Otto Erdmann. Dort gab es nur eine einzige Tochter, Eleonore. Deswegen wurde Ernst wie ein Kind des Hauses behandelt – und war Junge für alles. Dabei lernte er eine Menge über die Arbeit im Sägewerk.
Paula wurde Krankenschwester und arbeitete in Stettin.

In Sternin ging das Leben seinen gewohnten Gang.
Pauline und Johannes lebten zusammen mit ihrer Tochter Erna und deren Mann Ewald Trieglaff auf dem Hof. Da ihre beiden Brüder im 1.Weltkrieg gefallen waren, war Erna auf dem väterlichen Hof geblieben und ihr Mann Ewald hatte die Arbeit in der Landwirtschaft und auf dem See übernommen. Er wurde Kommissionär des Zentral-Viehhofs in Berlin und für eine Provision von 2 % belieferte er den Viehhof auf eigenes Risiko.

Nach dem Tod ihres Vaters erbte Erna als jüngstes Kind 1936 den Hof.

Ihre drei Kinder Waltraud, Alfred und Klaus wuchsen heran und besuchten die Schulen in Sternin und Kolberg. Ihr Spielplatz aber war der Hof, das Dorf, der See und die Molstow. Hans Semrau, Werner Strelow sowie Alfred und Klaus Trieglaff waren als Molstow-Piraten im ganzen Dorf bekannt.

1933 zählte die Bevölkerung in Sternin 851 Einwohner

Mit Ausbruch des zweiten Weltkrieges änderte sich auch das Leben in Sternin. Polnische Zwangsarbeiter, in der Hauptsache junge Männer, kamen und wurden den einzelnen Höfen zur Hilfe in der Landwirtschaft zugewiesen. Auf den Trieglaff-Hof kamen Heinrich und Eugen. Beide lebten bei Erna und Ewald wie Familienangehörige. Erna konnte die Heimatadressen der Jungen herausbekommen und Kontakte zu deren Eltern herstellen, die dann manchmal Pakete schickten.
Mit Ernas Einverständnis wurde das Zimmer der Polen, welches nach hinten zum Garten raus lag, zum heimlichen Treffpunkt. In Ernas Schlafzimmer wurde eine Klingel am Bett montiert. Wann immer jemand auf den Hof kam, wurden die Polen gewarnt, konnten aus der Hintertür flüchten und sich verstecken.

Als ihre Tochter Waltraud 10 Jahre alt war, wurde sie zu einer Cousine ihrer Mutter nach Hamburg geschickt und ging dort von 1938 bis 1940 zur Schule.

[Henni Auguste Richter, geb. am 23. August 1903 in Treptow als 3. Kind von Heinrich Bernhard Johann Richter und Alvine Rosaline Auguste Pagel, geboren am 8. April 1875 in Gumtow, Kreis Stettin, – des weiteren Tante Henni genannt]

Tante Henni war eine moderne und schicke Frau. Von Beruf war sie Putzmacherin und eine begnadete Schneiderin. Sie nähte für Waltraud und kleidete sie standesgemäß ein.

Als sie 1940 in Hamburg ausgebombt wurden, ging Tante Henni zusammen mit Waltraud nach Sternin, kehrte aber kurz vor Ende des Krieges nach Hamburg zurück, um dort Gustav, genannt Udi Fahrenhorst, einen Seemann, zu heiraten.

Der Krieg in Sternin

Auch vor Sternin machte der Krieg nicht halt.
Im März des Jahres 1945 verbreiteten aus dem Osten kommende Flüchtlinge durch ihre Berichte Angst und Schrecken. Die Rote Armee war auf dem Marsch, Kolberg zu erobern. In der Nacht auf den vierten März bekamen die BDM-Mädchen den Befehl, die sich im Ort aufhaltenden Flüchtlinge zur Bahn zu bringen. Heinrich spannte die Pferde an die Kutsche und brachte die Flüchtlinge weg. Er kam mit schweißnassen Pferden zurück und erzählte, „dass er in Roman schon über Leichen gefahren sei.“
Die Pferde wurden an den seit längerem fertig gepackten Treckwagen gespannt, dann ging es los. Aber der Versuch, die Landstraße in Richtung Westen zu erreichen, endete schon in der Dorfmitte. Die Straßen waren von den Trecks aus dem Osten vollkommen verstopft, und es wurde Nachmittag, bis sie sich einordnen und in Richtung Kinow in Bewegung setzen konnten. Als sie endlich die freie Landstraße erreichten, wurden sie von Tieffliegern beschossen. Schrecken und Leid verbreiteten sich ringsum.

Dann, auf der Hauptstraße Kolberg-Treptow, hieß es plötzlich, dass deutsche Panzer von vorne kämen – aber es waren russische. Durch ihre Angriffstechnik kamen sie dem Flüchtlingstreck aus Sternin entgegen. Nicht aus dem Osten kam „der Russe“, sondern aus dem Westen und überraschend standen sie sich plötzlich gegenüber.

Dem Treck hatten sich Soldaten und Bodenpersonal vom Flugplatz angeschlossen. Diese Soldaten schossen den ersten Panzer kaputt, woraufhin alle deutschen Soldaten erschossen wurden. Ebenso alle Menschen, die versuchten übers Feld zu fliehen oder solche, die mit Waffen angetroffen wurden. Viele Frauen und Kinder, auch die Trieglaffs, hatten sich hinter Kartoffel- bzw. Rübenmieten versteckt bis ein russischer Soldat kam und sie „nach Hause“ zurückschickte. Die Panzer fuhren dann auf dem Sommerweg an dem Treck vorbei. Sie gehörten zur kämpfenden Truppe und konnten sich keine weitere Verzögerung leisten.
Es war ein heilloses Durcheinander, überall tote Menschen und Pferde, umgekippte Wagen.
Ewald, Erna und ihre drei Kinder hatten Glück im Unglück. Sie überlebten alle fünf unverletzt. Da sie ihren Wagen nicht durch die herumliegenden Trümmer fahren konnten, spannten sie ihre Pferde aus und gingen zurück nach Sternin. Am nächsten Tag holten Heinrich und Eugen auch den Wagen zurück, aber an eine Flucht in den Westen war nicht mehr zu denken .

Am 4. April 1945 kamen die Russen nach Sternin und machten Kriegsgefangene. Wahllos wurden Männer, Frauen und Kinder aus den Häusern geholt und kamen in russische Gefangenschaft. Auch Ewald Trieglaff wurde abgeholt, während seine Kinder mit hocherhobenen Händen dabeistanden. Erna blieb mit ihren Kindern alleine zurück.

Kurz darauf, am 20. Mai 1945 verstarb Ewald in einem Lazarett im Distrikt Archangelsk an Ruhr.
Sein Jugendfreund Felix Firtzlaff, der mit ihm von Schwiebus aus interniert wurde, gab diese Nachricht  nach seiner Befreiung aus der Gefangenschaft an Erna weiter.

Erna, die nun nicht wusste was sie tun sollte, blieb mit ihren Kindern auf dem Hof und war dadurch russische Gefangene. Das ganze Dorf war von den Russen interniert, Vieh und Pferde wurden eingezogen. Eine Rinderherde im Wert von 600 Reichsmark, die Ewald für den Berliner Schlachthof zusammengekauft hatte, wurde konfisziert.
Demütigungen und Vergewaltigungen waren an der Tagesordnung und die ständige Todesangst machten das Leben zur Hölle. Jetzt waren es deutsche Kriegsgefangene, die den einzelnen Höfen zur Feldarbeit zugeteilt wurden.

Nach vielen verschiedenen Kommandanturen im Dorf kamen nun polnische Familien, besetzten die einzelnen Höfe und betrachteten sich als Eigentümer. Auf dem Trieglaff-Hof quartierten sich gleich zwei Familien, eine polnische und eine russische ein. Erna wurde Abends mit ihren Kindern in einem Zimmer eingesperrt.
Erna und ihre Kinder, wie alle zurückgebliebenen Einwohner von Sternin, mussten für die Russen die Felder bewirtschaften. Zum Zeitpunkt der Ernte musste der neunjährige Klaus den ganzen Tag auf den Feldern Gaben binden, obwohl ein Selbstbinder vorhanden war. Aber die russischen Soldaten kannten keine landwirtschaftlichen Geräte und so wurden die anstehenden Feldarbeiten unter strenger Bewachung ohne Hilfsmittel durchgeführt.
Andere Kinder mussten Getreide dreschen, das von den Russen beschlagnahmte Vieh hüten oder in den Soldatenküchen und -unterkünften Hausarbeit verrichten.

Mit drei Familien auf dem Hof wurde die Situation unerträglich und genug zu essen gab es auch nicht für alle.
Erna wurde immer wieder darauf hingewiesen, den Hof bald verlassen zu müssen.
Eine junge Frau mit 3 Kindern sollte den Hof verlassen. Den Hof, den sie von ihrem Vater geerbt hatte, auf dem sie geboren und aufgewachsen war und der auch ihren Kindern die Heimat bedeutete. Sie sollte in den unbekannten Westen und in eine unbekannte Zukunft ziehen.

Der Weg nach Westen

Aber Erna und ihre Kinder teilten dieses Schicksal mit Tausenden von anderen Frauen, die ohne ihre Männer die Heimat verlassen und den Weg nach Westen gehen sollten.

In einer Januarnacht 1946 kletterte sie leise aus dem Fenster, packte die unter einem Holzstapel im Schuppen versteckten, eingefrorenen (denn es war ein harter Winter) Fleischkonserven und ein wenig ihrer Habe auf einen Schlitten, und zog bei Nacht und Nebel mit ihren Kindern davon. Waltraud hatte vor lauter Aufregung vergesse,  sich Schuhe anzuziehen und lief den ganzen Weg bis nach Teptow auf ihren Hausschuhen.
In Treptow konnten sie eine Weile bei Ernas Schwester Anna unterkommen, bis sie auch von dort vertrieben wurden und nach Stettin weiterzogen.
In Stettin erreichten sie ein großes Flüchtlingsauffanglager und von dort ging es in wochenlanger Fahrt in überfüllten Eisenbahnzügen in Richtung Westen. Eingepfercht wie Tiere, neben Kranken und Verletzten mussten sie im Stehen schlafen und konnten sich kaum bewegen.
In Bad Segeberg/Schleswig Holstein angekommen, musste Erna mit ihren Kindern für einige Wochen ins Krankenhaus. Sie alle hatten sich in den schmutzigen und überfüllten Eisenbahnwaggons Krätze, Furunkeln oder Läuse eingefangen.

Dann wurden sie weiter nach Itzehoe in ein Verteilungslager geschickt. Dort lebten sie drei Tage und Nächte auf der Bühne des Stadttheaters. Von hier aus wurden die Flüchtlinge auf die einzelnen Dörfer verteilt. Erna und ihre Kinder wurden dem Dorf Westermoor zugeteilt. Zwei Pferdewagen kamen und Alfred suchte (mit geerbtem Kennerblick) gleich den Wagen mit den besseren Pferden aus, übersah dabei aber, dass der andere Wagen mit Stroh ausgepolstert war.
Westermoor hatte zu dieser Zeit 200 Einwohner, und 400 Flüchtlinge.

Erna half in der Landwirtschaft und beim Melken der Kühe. Die Bauern brachten ihr Schafwolle zum Spinnen, dafür erhielt sie manchmal ein Stück Butter, ein paar Briketts, Kartoffeln oder Milch.

Tante Henni erfuhr den Aufenthaltsort von Erna und kam nach Westermoor. Sie holte Alfred nach Hamburg, wo sie und ihr Mann, mit Ernas Einverständnis, Alfred am 24. Juni 1946 adoptierten. Dieser ging unter dem Namen Alfred Albert Henry Fahrenhorst in Hamburg zur Schule.

[Tante Henni verstarb, nachdem sie schon fast 20 Jahre lang Witwe war, am 20.Oktober 1997 in Hamburg]

Ein Bruder von Paula und Ernst Goebel, die einstigen Ferienkinder in Sternin, war in Monheim im Rheinland Bürgermeister geworden. So gingen beide nach dem Krieg nach Monheim zurück und Ernst gründete dort ein Sägewerk.

Eleonore, die Tochter von Ernas Schwester Anna und Otto Erdmann, hatte in Treptow Herbert Wilke geheiratet, der dort eine Ofen-, bzw. Kachelofenfabrik besaß und in Kolberg ein Geschäft als Ofensetzer unterhielt.

Nach dem Krieg flohen sie mit ihren 3 Kindern per Schiff und landeten in Mecklenburg-Vorpommern. Etwa zwei Jahre später siedelten sie zu Ernst Goebel nach Monheim im Rheinland über.

Und hier verbindet sich die Geschichte dieser beiden Familien, die auch die Familie Trieglaff mit einbezog.

Herbert nahm in Monheim seinen Beruf als Ofensetzer wieder auf und gründete eine Firma für Kachelöfen.
Anna und Otto Erdmann folgten ihrer Tochter nach Monheim. Mit sieben Personen mussten sie dort auf engstem Raume zusammenleben, aber sie lebten noch und hatten sich gefunden.

Anna erfuhr den Aufenthaltsort ihrer Schwester Erna, und als ihr Schwiegersohn Herbert aus geschäftlichen Gründen nach Hamburg reiste, schickte sie ihn nach Westermoor. Am späten Abend kam Herbert in Westermoor an, ging auf das einzig beleuchtete Fenster zu, um nach Erna zu fragen – und hatte sie auch schon gefunden. Denn das einzige Licht im Dorf kam aus Ernas Zimmer, die dort saß und bis spät in die Nacht spann. Herbert nahm Waltraud mit nach Monheim, wo sie von Paula Goebel als Hausmädchen an eine Freundin vermittelt wurde. So kam Waltraud zu Martha Paas nach Dormagen.

Erna, mit einer ungewissen Zukunft und ihrem jüngsten Sohn Klaus alleine in Westermoor, versuchte nun ihren Sohn Alfred wiederzubekommen. Wir wissen nicht wie, aber schließlich gelang es ihr. Am 27. Oktober 1948 wurde die Adoption vom Amtsgericht Hamburg wieder aufgehoben.
Von Tante Henni wissen wir nur, dass es furchtbar viel Geld gekostet hat, die Adoption rückgängig zu machen. Überdies hätte sie Alfred unheimlich gerne als Erben „behalten“, da sie keine eigenen Kinder bekommen konnte.

Alfred, mittlerweile 17 Jahre alt, wollte Geld verdienen und nicht mehr zur Schule gehen. Das war auch ein Grund, nicht bei seinen Adoptiveltern zu bleiben. Er verließ sie und arbeitete zuerst bei einem Bauern im Münsterland, eine Arbeit die er von zu Hause gewohnt war und die er verstand. Als es dort keine Arbeit mehr gab, wechselte er in eine Weberei, die aber bald darauf bankrott ging. Für Kost und Logis fand Alfred dann Arbeit bei einem Dachdecker in Burgsteinfurt.

Erna zog es zu Schwester und Tochter ins Rheinland. 1949 kam sie zusammen mit ihrem Sohn Klaus zuerst nach Hackenbroich, auf der gegenüberliegenden Rheinseite von Monheim gelegen. Auf der Dorfstraße bekamen sie Quartier. Als Klaus die Schule beendet hatte, zogen sie in das Nachbardorf Dormagen, in dem Waltraud immer noch bei den Eheleuten Paas in Stellung war. Die Ummeldung erfolgte am 20.09.1949. Sie zogen in die Gneisenaustraße, eine Siedlung „Stoßprogramm“ genannt, die extra für die vielen in Dormagen ankommenden Vertriebenen, gebaut worden war.

Nachdem sich nun seine ganze Familie in Dormagen befand, kam auch Alfred1951 dorthin. Er fand Arbeit als Dachdecker bei der Firma Sebuschenich, sein Bruder Klaus eine Lehrstelle als Kaufmann bei der Volkswagen-Werkstatt Kappenberg.

Erna heiratete in 2. Ehe, am 10. März 1956, im Standesamt Düsseldorf Mitte, Otto Ziehe.
Otto, geboren am 11. Februar 1899, als Sohn von August Heinrich und Bertha Amalie Klara Ziehe, geborene Michels , in Düsseldorf.
Otto und Erna lebten zuerst in Düsseldorf und zogen später aus beruflichen Gründen nach Köln um. Otto Ziehe arbeitete dort beim Landschaftsverband Nordrhein Westfalen und verstarb am 11. November 1977 als Rentner.

Erna starb am 24. April 1979 in Köln nach einem Schlaganfall.

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